Am 1. April 2020, 23.00 sendet der WDR erneut den „investigativen“ „Dokumentarfilm“ Harvey Weinstein – Chronik eines Skandals von Jordan Hill (Buch und Regie) über die Sexaffäre von Harvey Weinstein. Ich habe mir vor längerer Zeit das schon einmal angetan, wo ich’s zuerst gesehen habe, weiß ich nicht mehr genau. Damals hatte ich mir schon überlegt, kritisch zu kommentieren, habe es aber gelassen, weil mir dieser Mist die Mühe nicht wert war. Da dies aber jetzt im Kontext des Verfahrens gegen Weinstein wiederholt wurde, gebe ich mal meinen verspäteten Kommentar dazu ab.
Vorab: Ich will Weinstein u.a. hier nicht verteidigen, das kann ich gar nicht, weil mir das nötige Hintergrundwissen fehlt und wer vergewaltigt oder belästigt, gehört hart dafür bestraft. Es geht mir einzig allein um diese grottenschlechte und tendenziöse „Dokumentation“ und dieses fragwürdige Drumherum.
Diese „Dokumentation“ fokussiert überwiegend auf die Aussagen mehrerer Boulevard-Journalisten wie Marc Malkin [1], Ashley Pearson [2], Kristyn Burtt [3] und Angelique Jackson [4]. Alle Vortragenden sind aber eher weniger bekannt und bis auf Ashsley Pearson, ohne Wikipedia-Eintrag. Dabei fällt der obsessive Stil dieser Personen in der Darstellung der angeblichen „Fakten“ mit vielen, vielen Verbalinjurien (Schwein, Monster, Perverser, Triebtäter, Ungeheuer) etwas aus dem „dokumentatorischen“ Rahmen. Man gewinnt den Eindruck, als hätte besonders Ashley Pearson eine persönliche Rechnung mit Weinstein offen, die sie im Rahmen dieser angeblichen Dokumentation zu begleichen sucht. Jede Beißhemmung scheint verloren, Weinstein ist ein dankbares Feld für subjektive Projektionen jeder menschlichen Schlechtigkeit.
Diese etwas hysterisch wirkenden Interviews mit Journalisten, die irgend etwas schon immer gehört haben wollen, was angeblich schon immer alle wussten, wird aufgemischt mit gestellten Aufnahmen von möglichen Missbrauchssituationen, unscharf, um der menschlichen Phantasie etwas nachzuhelfen: Ja, so könnte es gewesen sein, vielleicht aber auch nicht.
Würden Sie ihm Ihre Tochter anvertrauen? (Screenshot WDR-Mediathek)
Immer wieder wird eine hässliche extrem-Nahaufnahme von Weinsteins Gesicht gezeigt, die hier scheinbar beweisen soll, was er für ein Dreckskerl ist: Wer so aussieht, der frisst eben auch kleine Kinder. Und Frauen. Aufgemotzt wird das ganze mit Ausschnitten aus Fernsehinterviews mit Betroffenen, da der Autor Hill wohl überhaupt nicht mit direkt Betroffenen gesprochen hat. Offensichtlich hat Hill hauptsächlich die Interviews mit den vier „Journalisten“ und ein paar anderen Personen, wie etwa dem Psychologen Dr. Peter Hughes (Selbstbezeichnung: „Psychologist. Speaker. Writer. Entrepreneur. Demon Slayer“) oder der Schauspielerin Angelique Jackson selbst gedreht und den Rest aus allgemein verfügbarem Material zusammen geschnitten [spekulativ].
Intro [00:00:40]:
Time’s up. Seine Zeit ist abgelaufen. Die Wahrheit über H.W. wird nun endlich gehört. Gehen Sie mit uns dem H.W.-Skandal auf den Grund.
Quelle: https://www1.wdr.de/fernsehen/wdr-dok/sendungen/harvey-weinstein-chronik-eines-skandals-100.html
Wahrheit? Zum Zeitpunkt des Drehs dieses Meisterwerks gab es weder eine Anklage noch ein Verfahren gegen Weinstein, sondern nur Aussagen und Behauptungen. Investigativ heißt ja auch „nachforschend“, von Forschung kann aber hier keine Rede sein, es wird auf Teufel komm heraus gemutmaßt, vermutet und ganz genau gewusst. Aber alle angeblichen Fakten sind ja zu diesem Zeitpunkt (11. Oktober 2018) schon längst bekannt, Neues hat dieses Werk nicht zu bieten. Aber: „Jeder in H.W. Umfeld wusste …“ sagt Marc Malkin, der Mann mit der Fliege, der einem mit seiner affektierten Art zu sprechen körperliche Schmerzen zufügt.
Kristyn Burtt versteigt sich bei 00:46:03 in eine Aufzählung von Fällen der Vergangenheit: Roman Polanski, Woody Allen, u.s.w. Über Polanski behauptet sie, er wäre wegen Vergewaltigung einer Minderjährigen, die er unter Alkohol und Drogen gesetzt hätte, verurteilt worden, was aber gar nicht stimmt, denn er wurde nach einem Deal wegen „außerehelichen Geschlechtsverkehr mit einer Minderjährigen“ angeklagt aber er wurde bis jetzt gar nicht verurteilt, weil er sich dem Verfahren entzog, was eben ein erheblicher Unterschied ist.
Über Allen behauptet sie, er hätte eine Affäre mit seiner minderjährigen Stieftochter gehabt, was auch nicht stimmt, die Stieftochter Soon-Yi war damals etwa mindestens 18 bis 20 Jahre alt.
Er habe, da er mit Farrow nie zusammengelebt habe, Soon-Yi als Kind kaum gekannt. Erst als sie erwachsen war und aufs College ging, habe Farrow Allen gebeten, ein bisschen Zeit mit der angeblich verstockten Adoptivtochter zu verbringen. Also nahm Allen, damals 57 Jahre alt, die 22-Jährige mit zu Baseballspielen.
Die Missbrauchsvorwürfe bezogen sich auf seine damals siebenjährige Adoptivtochter Dylan:
1992 gab es zwei Untersuchungen zu dem Fall, vom Jugendamt des Staates New York und von der Child Sexual Abuse Clinic der Universität Yale. Beide fanden keine Beweise, mehr noch: Das von Allen zitierte Gutachten aus Yale kam sogar zu dem Schluss, dass die Tat wahrscheinlich nicht stattgefunden habe. Eine Anklage wurde deshalb nicht erhoben.
[…]
Farrow hätte ihm daraufhin verkündet, ihre Rache werde schlimmer sein als Allens Tod und sie nehme ihm nun seine Tochter weg, denn er habe ihr ihre weggenommen. Ein paar Monate später, im August 1992, behauptet Mia Farrow, Allen habe Dylan auf einem Dachboden an den Genitalien angefasst: Sie selbst war zu der Zeit einkaufen gewesen, aber andere Kinder und deren Babysitter seien im Haus gewesen und hätten den Vorfall berichtet. Dylan hat als Siebenjährige widersprüchliche Aussagen zu den Geschehnissen gemacht, doch später als Erwachsene hatte sie keine Zweifel mehr an der Tat. Allen behauptet, die Mutter habe dem Kind den Vorfall eingeredet, Moses Farrow unterstützt ihn darin.
Allen ist zwar nie angeklagt worden, aber Frau Burtt beschwert sich bitterlich darüber, dass noch irgend jemand mit Allen zusammenarbeitet. Weiter geht es mit Hitchcock, und, und, und, alle kommen mal dran. Schlimme Sachen, das. Aber was soll das jetzt beweisen? „Es gibt Geschichten, von jungen Schauspielerinnen …“, „Diese Geschichten erzählt man sich in Hollywood schon lange“, so geht das die ganze Zeit. Machen die Damen und der Herr zunächst aus Hollywood ein „System von sexuellen Prädatoren“, heißt es dann wieder „… es gibt da ein paar schwarze Schafe …“. Jawattdennnu?
Man fragt sich auch die ganze Zeit, was diese Roddelblad-Journalisten und professionellen Gerüchteköche besonders dazu befähigt, ein qualifiziertes Urteil über die Weinstein-Affäre abzugeben, so sind sie doch in gewisser Weise befangen, da sie ein lebendiges Interesse daran haben, diese Geschehnisse für ihre Zeitungen, oder was auch immer, aufzubauschen und auszuschlachten. Marc Malkin: „Viele fragen sich: Warum äußern sie sich erst jetzt? 20, 30 Jahre später. Ähm. Ich denke, das ist eine sehr unfaire Frage. Das waren andere Zeiten. Damals hörte Frauen niemand zu. Sie hatten keine Chance etwas dagegen zu unternehmen.“ Aha: Rotkäppchen und der böse Wolf.
Exkurs: Rotkäppchen und der böse Wolf
Das man mittels Macht Menschen manipulieren kann, ist eine relativ triviale Erkenntnis. Was mich verwundert ist Weinsteins eher unterdurchschnittliches Aussehen mit mindestens 30kg Übergewicht und dem Gesicht eines Kirmesboxers. Wie schaffte es dieser Mann immer wieder äußerst gut aussehende Frauen an sich zu binden?
Weinstein hat eine verdeckte Agenda: „Ich bin sehr mächtig und das kann ich nutzen, um Beziehungen zu Frauen aufzubauen“, nicht nur sexuelle Beziehungen, er war ja mit einigen Frauen auch länger verheiratet. Aber auch die betroffenen Protagonistinnen haben eine verdeckte Agenda: „Ich bin attraktiv, ich kann mir einen Vorteil verschaffen, wenn ich diese Attraktivität einsetze, um einen guten Job von einem mächtigen Mann zu bekommen.“
Kommen Sie bitte ein bisschen näher ‚ran! (Screenshot WDR-Mediathek)
Es ist ein Deal unter zwei Erwachsenen, aber den kann die Protagonistin beenden, indem sie aufsteht und geht, oder gar nicht erst mit ihm in Kontakt gerät, denn wie wir von der seriösen Journalistin wissen, galt er schon immer als „brutal und pervers“. Das Problem ist: Man will eben beides haben, die Ehre behalten und den Vorteil erreichen. Aber es gibt auch in einer solchen kniffligen Situation Handlungsoptionen: Man muss eben bereit sein, auf etwas zu verzichten.
Und vielleicht sollte man auch die Frage nach der Verantwortung stellen, wenn doch schon alle immer alles wussten: Warum konnte er so lange damit weitermachen? Vielleicht, weil alle teilnahmslos zugesehen haben?
BTW: Wenn wir schon bei lustigen Tiervergleichen sind: Weinstein ist Jude. (Screenshot WDR-Mediathek)
Der WDR findet das gut
WDR Teaser zur Doku:
Ein erstes Urteil
Über 80 Frauen gingen an die Öffentlichkeit und beschuldigten Harvey Weinstein des sexuellen Missbrauchs. Im Mai 2018 wurde er angeklagt, im Frühjahr 2020 in New York in erster Instanz wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung zu einer Haftstrafe von 23 Jahren verurteilt.
Quelle: https://www1.wdr.de/fernsehen/wdr-dok/sendungen/harvey-weinstein-chronik-eines-skandals-100.html
Es wäre vielleicht noch zu ergänzen, dass bei der Anklage nur zwei Frauen von 80 übrig geblieben sind. In zwei von fünf Anklagepunkten wurde er verurteilt.
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Weinstein-Skandal#Prozess
Weiter WDR Teaser:
Doch im Mittelpunkt des Films stehen jene Menschen, die am meisten unter Harvey Weinsteins Verhalten zu leiden hatten: die Frauen, die er missbraucht hat.
Aha. Stimmt das wirklich?
Fazit des Films: Die Zeit der Triebtäter ist vorbei. Zu wenige Frauen in der Filmbranche, mit vielen Frauen wird alles gut. Und: Harvey Weinstein ist eine Hexe!
Mein Fazit: Tipi Hedren, Hitchcocks Hauptdarstellerin in „Die Vögel“ und „Marnie“ sagt in dieser „Dokumentation“ den einzigen sinnvollen Satz: „Wir Frauen müssen ’nein‘ sagen!“. Und überhaupt: Diese Inszenierungen von Frauen als das „schwache Geschlecht“ sind reaktionär und antifeministisch.
So lautete auch stets die ernste Anweisung an meine Tochter: Sende immer klare Signale, begib dich nicht in Situationen, die du nicht mehr kontrollieren kannst und nimm das Pfefferspray mit.
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Zum Hintergrund der Journalisten
(Screenshot WDR-Mediathek)
[1] Marc Malkin: Marc Malkin is known for his work on E! News (1991), RuPaul’s Drag Race (2009) and RuPaul’s Drag Race All Stars (2012).
Quelle: https://www.imdb.com/name/nm2958566/
(Screenshot WDR-Mediathek)
[2] Ashley Pearson: „Ashley began her career 8 years ago as a serious journalist covering politics and international news at the NBC News Bureau in London. She soon realised however, that her passion was reporting on the lives and loves of the world’s most famous stars. Her sources and contacts include some of the biggest behind the scenes movers and shakers in Hollywood.“
Quelle: https://www.classiquepromotions.co.uk/act/ashley-pearson
(Screenshot WDR-Mediathek)
[3] Kristyn Burtt: „Kristyn Burtt is an IAWTV award-winning host and entertainment reporter. She began her hosting career with a children’s dance video teaching the world how to Electric Slide and Hokey Pokey. Since then, she has moved on to more serious ventures with the pilot episodes of „The Arena with Jesse Ventura“ on MSNBC and host/reporter stints with QVC“
Quelle: https://www.imdb.com/name/nm1995001/
(Quelle: https://www.angeliquejackson.com, Youtube)
[4] Angelique Jackson (wird bei als Producer bezeichnet, hatte laut imdb aber nur eine „tragende Rolle im Klamauk „Da Munchies“ als Lil Girl Gangster 6″): „Angelique Jackson is an actress, known for Gettin‘ Da Munchies (2005) and Entertainment Tonight (1981).“